"Wir sind hier, weil es letztlich kein Entrinnen vor uns selbst gibt. Solange der Mensch sich nicht selbst in den Augen und Herzen seiner Mitmenschen begegnet, ist er auf der Flucht. Solange er nicht zulässt, dass seine Mitmenschen an seinem Innersten teilhaben, gibt es für ihn keine Geborgenheit. Solange er sich fürchtet, durchschaut zu werden, kann er weder sich selbst noch andere erkennen - er wird allein sein.

Wo können wir solch einen Spiegel finden, wenn nicht in unseren Nächsten?

Hier in der Gemeinschaft kann ein Mensch erst richtig klar über sich werden und sich nicht mehr als den Riesen seiner Träume oder den Zwerg seiner Ängste sehen, sondern als Mensch, der - Teil eines Ganzen - zu ihrem  Wohl seinen Beitrag leistet. In solchem Boden können wir Wurzeln schlagen und wachsen; nicht mehr allein - wie im Tod - sondern lebendig als Mensch unter Menschen."

 

Richard Beauvais

 

 

Was ist Bonding-Körper-Psychotherapie?

 

Die Bonding-Psychotherapie ist ein emotions-orientierter Lernprozess, dessen Wirksamkeit auf einem Zugang zu tiefen Gefühlen, der Bewusstmachung und Veränderung alter, nicht mehr angemessener Einstellungen zu sich und anderen und dem Erlernen neuer Verhaltensweisen basiert. Die vertrauensvolle und unterstützende Atmosphäre in der therapeutischen Beziehung ermöglicht es, miteinander in einen offenen und ehrlichen Austausch zu treten. Alte Vermeidungsstrategien, die heute wie Stolpersteine wirken, können erkannt und aufgegeben werden um neue, angemessene Verhaltensweisen auszuprobieren, als Voraussetzung für eine lebendige und lebensfreudige Beziehungs- und Lebensgestaltung.

 

Die Bonding-Psychotherapie wurde in den 60er und 70er Jahren von Dr. Daniel Casriel entwickelt. Es ist ein emotionsorientierter Lernprozess, der auf dem Zugang zu tiefen Gefühlen, der Erarbeitung von positiven Einstellungen zu sich und anderen und der Entwicklung und Einübung von neuen Verhaltensweisen basiert. Eine der wichtigsten Entdeckungen von Dr. Casriel ist die Bedeutung eines biologisch verankerten Grundbedürnisses des Menschen nach emotionaler Offenheit zusammen mit körperlicher Nähe, das er mit dem Begriff “Bonding” benannte.
In den letzten Jahren wurde die Theorie der Bonding-Psychotherapie  weiterentwickelt und differenziert. Das von Casriel genannte Grundbedürfnis nach emotionaler Offenheit und körperlicher Nähe wurde durch weitere lebensnotwendige, neurobiologisch verankerte psychosoziale Grundbedürfnisse - Bindung, Autonomie, Selbstwert, Identität, Körperliches Wohlbehagen und Lebenssinn - erweitert.

 

In den letzten 10 Jahren seiner Arbeit betonte Casriel immer mehr die heilende Kraft, die in der Erfüllung der Primär-Bedürfnisse nach menschlicher Nähe (Bonding) liegt. Aus dieser Erkenntnis entwickelte er die Bonding Übung, die heute so im Mittelpunkt steht, dass seine Methode als Bonding-Therapie bezeichnet wird.
Dan Casriel und seine Arbeit wurden besonders durch Dr. med. Walter Lechler im deutschsprachigen Raum bekannt. Als Chefarzt der Psychosomatischen Klinik Bad Herrenalb in der Zeit von 1971 bis 1988 hat Dr. Lechler Casriels Arbeit als einen wichtigen Bestandteil in die Lehr-Lern-Gemeinschaft der Klinik eingeführt und integriert.


Menschen und Weltbild
Das vielseitige seelische und psychosomatische Leiden des heutigen Menschen betrachtet Casriel als das Ergebnis einer kulturell bedingten Konditionierung. Der Kern dieser Konditionierung ist ein Zustand des Mangels im Bereich eines lebenswichtigen Basisbedürfnis des Menschen – Bonding. Genauer gesagt ist Bonding das biologisch verankerte Grundbedürfnis des Menschen nach emotionaler Offenheit zusammen mit körperlicher Nähe zu anderen Menschen. “Bei der Beobachtung von Urvölkern erfährt man eine natürliche Selbstverständlichkeit in Bezug auf diese Bedürfnisse”.(D.Casriel). Bedingt durch die Lage der Kleinfamilie und den Stress des modernen Lebensstils erleben Kinder der westlichen Welt häufig ein Defizit an einfacher körperlicher und seelischer Zuwendung. Sie lernen früh, dass der Preis für Liebe oder Zuwendung sehr hoch ist und lernen, sich entsprechend anzupassen. Diese kindlichen Entscheidungen bleiben als Überzeugungen, wie das Leben ist, im Erwachsenen gespeichert und prägen sein Verhalten. So entsteht ein Teufelskreis. Die Enttäuschung über ein unerfülltes Liebesbedürfnis, das als schmerzhaft oder ärgerlich erlebt wird verstärkt die Überzeugung, z.B. selbst nicht liebenswert zu sein. Man verhält sich demnach zurückhaltend oder feindselig und wirkt auf die menschliche Umwelt in einer Weise, dass man erneut enttäuscht wird. Aus solchen Kreisläufen entstehen eingefahrene Gefühls-, Denk- und Verhaltensmuster, die für den Betroffenen zu einem Gefängnis werden. Gelernte Verhaltensstrategien, die zu erneuter Enttäuschung führen, verstärken immer wieder die Grunderfahrung.
Um eine Veränderung zu ermöglichen ist es notwendig, in einer vertrauensvollen und unterstützenden Atmosphäre alte Vermeidungsstrategien zu erkennen und aufzugeben und neue, angemessene Verhaltensweisen einzuüben. Das Neuerlernen umfasst dabei alle drei Ebenen des Fühlens, Denkens und Handelns.
Der Mensch ist für Casriel von seiner Natur her gut und wertvoll. Ihm geht es um eine Wiederentdeckung des ursprünglichen, des biologischen Selbst. Die Erfahrung, dass die eigenen Bedürfnisse eine Quelle der Freude für sich und andere sind, ermöglicht wieder eine emotionale Bindung zu anderen Menschen. Die drei Grundberechtigungen nach Casriel “Ich bin” (ich lebe), “Ich brauche” (meine Bedürfnisse sind gut), “Ich bin berechtigt” (für mich zu sorgen, Fehler zu machen, glücklich zu sein, usw.) werden erfahrbar. “Bonding ist die mehr und mehr angstfreie Beziehung zu dem Geschenk LEBEN, zu allem, was für uns auf dieser Welt Partner ist in unserer dialogischen Beziehung mit dem Leben. Bonding ist Ausdruck einer Lebenshaltung, Lebenseinstellung, Lebensweise, die Identität zu deren Bild wir geschaffen sind und auf die zu wir uns hinentwickeln müssen, wenn wir leben und nicht dahinsiechen und sterben wollen.” (Dr. Walther Lechler)


Anwendungsbereich
Bonding-Psychotherapie eignet sich im Allgemeinen für alle Menschen, die besseren Zugang zu ihrer Gefühlswelt gewinnen und ihre emotionale Bindungsfähigkeit vertiefen möchten. Für Menschen mit besonders rigiden und/oder zerbrechlichen Ich-Strukturen sollte die Bonding-Psychotherapie nur im klinischen Rahmen und/oder in entsprechend abgewandelter Form eingesetzt werden.


Ablauf der Arbeit
Bonding-Psychotherapie ist ein Verfahren, das in ganz unterschiedlichem Kontext angewendet werden kann: als Einzeltherapie, als fortlaufende, ambulante Gruppe, als prophylaktische und wachstumsorientierte Selbsterfahrung und als hauptsächliche oder ergänzende therapeutische Massnahme im klinischen Rahmen. Eine typische Bonding-Sitzung dauert etwa 2-5 Stunden.

 

Walther H. Lechler:

 

Das Bad Herrenalber Modell (der Santiago-Verlag hat seine Arbeit 2019 beendet)


Die Lehr-Lern-Gemeinschaft (Teaching-Learning-Community) als psychosomatisches Klinik-Konzept
.

 

   Sensualität versus Sexualität: dieses Thema hat für das Verstehen und Begreifen von dem, was „Bonding im sogenannten New Identity Process nach dem amerikanischen Psychoanalytiker und Psychthearpeuten  Dan Casriel ist, grosse Wichtigkeit und soll deshalb auch eine besondere Be-Achtung erfahren. Es gibt einen Vortrags­mitschnitt von Walther Lechler zu diesem Thema, der beim Förderkreis für Ganzheitsmedizin Bad Herrenalb e.V. als Ton­kassette erhältlich ist und dem die folgenden Auszüge - für den Abdruck leicht bearbeitet - entnommen sind.

   „In der Klinik in der Kullenmühle hat das sogenannte „Bon­ding“ seine wichtige Bedeutung. Sie wurde unter anderem auch deshalb gerne Kuschelmühle genannt. Wo es, wie es hier ge­schieht, in den zwischenmenschlichen Begegnungen um inten­sive Nähe geht und darum, einander Nahezusein und Nahezu­kommen, kann sich bei uns, so glaube ich, sehr viel vermengen. Da kommt es nämlich allzuleicht zu dem großen Missverständ­nis, dass Sensualität mit Sexualität verwechselt wird. Und in der Mitte steht gewissermaßen als Angelpunkt die Emotionali­tät. Es liegt an unserer Erziehung, es liegt an unserer kulturellen Situation, dass immer wieder Sensualität - Sinnlichkeit - mit Sexualität verwechselt wird. Mindestens 1.800 Jahre haben uns geprägt, dass Sinnlichkeit, Sinnenlust, Sinnenempfinden Sünde sei. Und ich glaube auch, dass es mit an dieser Auffassung, an dieser Einstellung liegt, dass wir entsprechend leben und sie ausdrücken. Wir unterstehen dieser Programmierung, wir leben unter der Macht dieser Programmierung. Und hier stellt sich für uns die Frage, ob wir uns darüber genug Gedanken machen, ob wir bereit sind, ein anderes Erleben zu erfahren und dann diese Programmierung ändern. Wir können in unserem Leben ja nur etwas ändern, indem wir neue Erfahrung machen.

 

 

Sinnliches Erleben

 

   Sensualität haben wir immer schon erlebt - und die Sensualität hat bei uns schon angefangen, als Samen und Ei zusammen kamen, als nach einem ganz bestimmten Plan nun das Zell­wachstum begann.

Sensualität ist das Gesamte der sinnlichen Erfahrung, wie wir mit all unseren Sinnen in diese Welt hineinwachsen und mit dieser Welt in Kontakt kommen. Das sind nicht nur die Berüh­rungssinne, das ist nicht nur der Gesichts- und der Gehörsinn, sondern die Gesamtheit der Sinne macht diese Erfahrung aus - und das Gesamterleben ist mehr als die Summe der einzelnen Sinne.

 

   Zur sinnlichen Wahrnehmung gehören zum Beispiel Bewe­gungswahrnehmungen. Deswegen lieben manche Menschen den Tanz so, die Bewegung, weil allein schon die verschieden­artigen Stellungen, die Dehnung und Spannung und die Gegen­dehnung und Gegenspannung der Muskulatur, die Überstre­ckung von Gelenken ganz neue und andersartige Sinnesemp­findungen ergeben. Sprünge, sich überschlagen, kugeln, sich auf dem Boden rollen: das sind ja Dinge, die wir zum Teil völ­lig aus unserem Erleben ausgeschaltet haben, weil wir in unse­rer Art, wie wir die Welt erleben, völlig reduziert wurden. Deswegen suchen manche Menschen Extremerfahrungen, in­dem sie fliegen lernen und dabei Loopings lernen, Turns und ähnliches, nur weil sie die Erdschwere verlieren wollen. Wa­rum springen manche Menschen aus Flugzeugen und lernen das Fallschirmspringen? Weil sie genau merken, hier geht es nicht nur um eine Fülle einzelner Sensationen, sondern um mehr. In diesem Begriff, Sensation, ist nämlich das lateinische Wort „sens“ enthalten, was zu übersetzen ist mit „Sinn“.

 

   Weshalb suchen wir Sensation? Warum springen Menschen von 12 Meter hohen und gar noch höheren Sprungbrettern her­unter, drehen sich in Spiralen, überschlagen sich und schlagen dann auf dem Wasser auf? Um dieses besondere und andere Gefühl zu bekommen, eine größere Fülle von sinnlichem Erle­ben. Und das, was da gesucht wird, diese Sinnlichkeit, wurde leider, wie schon gesagt, bei uns oft herabgewürdigt zur Sünde.

 

Zur Sinnlichkeit gehört auch das Stimmerleben, das Singen, das Sprechen, das leise Sprechen, das laute Sprechen, in ver­schiedenen Stimmhöhen zu sprechen. Dialoge, die man führt, auch das Schreien. Was haben Kinder einen Spaß, schreien zu können. Und wir halten die Ohren zu und sagen, ich kann es nicht mehr aushalten, das ist ja furchtbar, denk an die Nachbarn und so weiter. Mein Gott, die Kinder, die kennen nichts, wenn sie Freude erleben. Die leisten sich das noch. Wir dürfen das ja gar nicht. Wenn das einer von uns macht, sagen die doch: der spinnt, der ist verrückt. Ein Psychiater würde sofort sagen: der ist manisch. Den müssen wir einsperren. Der ist überdreht.

 

Ich habe mal einen Vortrag gehalten und bin dabei manchmal etwas aus meiner ruhigen Haltung herausgegangen. Da kam anschließend ein Kollege auf mich zu und sagte: „Also Herr Kollege, Ihr Vortrag war sehr interessant, ich meine, was das wissenschaftliche anbelangt, dazu kann ich jetzt noch nicht viel sagen, aber irgendwie geht die Art ihres Vortrags so in Rich­tung Manie bei Ihnen.“ Vermutlich hat der Kollege es sich selbst nicht mehr gestattet, sinnlich zu erleben.

 

Sinnlichkeit ist auch in der Art, wie wir mit dem Wetter um­gehen. Wie wir uns der Sonne aussetzten, auch dem Regen, wenn wir uns entsprechend anziehen und in den Wind heraus­gehen und in den Schneesturm.

 

Ich meine, die ganze Freude am Skisport ist dieses sinnliche Erleben von Bewegung, von Geschwindigkeit. Ein Stück Ge­fahr ist dabei, und unser Einsatz verlangt das Überwinden von Angst. Das ist ja der Teil, der aus unserem Leben, das so abge­sichert ist, oft völlig ausgeschaltet ist.

 

 

Unser Bedürfnis nach Nahesein

 

   Und dann gehört zum Thema der Sinnlichkeit auch die Frage, in wie weit hier eine ganz große Not herrscht. Ich glaube, dass die meisten von uns nur zehn Prozent der Kapazität, die uns an Sinnlichkeit zusteht, in die Beziehung zum anderen investieren. In wie weit können wir angstfrei und wirklich mit Freude auf einen anderen Menschen zugehen, ihm nahe sein? Und in wie weit können wir einem anderen gestatten, uns nahe zu sein? Damit nicht als spontanes Gefühl gleich Abwehr in uns auf­kommt, wenn einer auf uns zukommt und zu uns sagt: „Du, darf ich Dich mal umarmen? Du hast vorhin gerade etwas ge­sagt, wobei ich mich Dir so nahe gefühlt habe. Das tat mir so gut und ich möchte Dir mal richtig nahe sein.“ Dass man da nicht gleich eben aus diesem spontanen Gefühl heraus sagt: „Um Gottes Willen, was hat der vor?“ Und Angst kriegt.

 

   Auf der einen Seite erlauben wir uns den Gedanken nicht, dass da ein echtes Bedürfnis bei dem anderen Menschen vor­handen ist, das er so offen ausdrückt. Dass er einfach herzlich offen sagt, dass er uns nahe sein will. Auf der anderen Seite ist bei uns die Schwierigkeit, dass wir unsere eigenen Bedürfnisse, die wir hier innen in uns genau spüren, nicht mehr ausdrücken können. Dass wir unsere Bedürfnisse nicht äußern, nicht in ein­fache Worte fassen können. Sondern wir tun das über Umwege und vielleicht hat jeder von euch das schon einmal erlebt, dass unsere Bedürfnisse über diese Umwege, über die oft sehr ver­schnörkelte Art, sie anzudeuten, nicht verstanden werden. Dann schalten wir ab und unsere Stimmung schlägt ins Gegenteil um, wir werden böse und verärgert und wir machen zu und wir kriegen eine Scheißstimmung und wir könnten alles in die Luft sprengen - und dann lehnen wir den anderen ab. Und alles nur, weil er unsere verklausulierten Formulierungen unseres Be­dürfnisses „Ich möchte Dir eigentlich gerne nahe sein“ nicht verstehen konnte.

 

   Da ist dieser Bedarf, den der andere nicht herausbekam und nicht erraten konnte, ein Bedarf nicht im Sinne von Essen und Trinken, von hungrig und durstig, sondern wir sind vielleicht voller Spannung, voller innerer Unruhe und hätten eigentlich nur gerne, dass uns ein anderer Mensch nahe ist. Wenn er ein Mann ist, darf er nicht weinen, aber ein Mann darf zornig wer­den und eine Stinkstimmung haben. Und eine Frau darf nicht zornig werden und darf auch nicht laut werden. Stattdessen darf sie weinen, darf sich höchstens in der Ecke über ein Bett wer­fen und dann furchtbar heulen und jammern.

Und beide drücken dadurch ihre innere Not und ihren Hunger und ihr Bedürfnis aus, das sie nicht anders artikulieren können. Sie können nicht mehr auf den anderen zugehen und ihm ein­fach sagen: „Du, ich möchte Dich umarmen und bleib mal ein­fach kurz so stehen oder liegen!“ oder: „Mensch, ich bin froh, dass dieser Tag vorbei ist. Ach, tut mir das gut - und den Rü­cken reiben kannst du mir auch ein bisschen - ach, wie ent­spannt das alles!“

 

   Das alles können wir häufig nicht. Wir können diese Bedürf­nisse nicht ausdrücken. Denn da gibt es einen Grund, der uns daran hindert. Wir lassen nämlich gar nicht zu, dass unsere Be­dürfnisse nach Wärme, nach Nähe, nach Liebe, nach Vertrauen, nach Geborgenheit schön sind. Sondern wir haben immer den Beigeschmack dabei - weil man uns das jahrelang so beige­bracht hat - dass diese Bedürfnisse für andere eine Belastung sind. Diese Bedürfnisse sind einfach nur eine Bürde für die anderen - lästig. Das haben uns irgendwann die Eltern beige­bracht, das hat uns unsere Umgebung beigebracht und im Grunde genommen wurde uns immer gesagt oder angedeutet, wenn wir uns nach Nähe sehnten: „Ist ja schon gut, ist schon gut, das machen wir schon irgendwann, aber mach mal erst Deine Hausaufgaben, tu erst mal dies, tu erst mal das, arbeite erst mal Deine acht Stunden weg und so weiter und so weiter.“

 

   Und dabei könnten wir einander in unserem Leben, auch während eines acht Stunden Tages, an der Maschine, in der Fabrik, im Betrieb, in der Klinik, wo immer einer arbeitet, so viele Zeichen von Nähe geben, des Zugewandtseins, des Offen­seins, der Angstfreiheit, dass unser Tag voller Blumen wäre. Und es ist dann nicht ein ständiges „wäre“ und „hätte“ und „ja,wenn“. Ich weiß, dass es Orte gibt, wo ein solches Verhalten miteinander ausgeübt wird und ich weiß, dass Menschen das dann auch weiter in ihrem Alltag praktizieren können. Das habe ich vorher auch nicht geglaubt und wenn Menschen dieses Ex­periment nicht gemacht hätten, dann würde ich es auch nicht glauben, dass sich so etwas unter uns ausbreiten könnte. Wäre das verbreitet, dann hätten wir weniger oft diese klassische Si­tuation zwischen zwei Menschen, von denen der eine zornig heimkommt, der andere, vielleicht die Partnerin, mit den Kin­dern den ganzen Tag Knies gehabt hat und auch nicht mehr durchblickt, wie sie eigentlich alles schaffen soll. Beide können einander nicht sagen, wie es um sie steht. Sondern der Mann kommt nach Hause und erwartet eigentlich eine strahlende, ausgeruhte und appetitliche Frau, die zu ihm sagt: “Ach Lieb­ling, es ist schön, dass Du da bist!“ Was erlebt er stattdessen?

 

   Er sieht sich als Held, der von dem draußen tobenden Kampf um das Wohlergehen seiner Familie heimkommt. Sie kann je­doch nicht auf dieser Ebene einsteigen, weil sie auch gerne je­manden haben würde, der sie erst einmal in die Arme nimmt und ihren Tagesstress anerkennt. Stattdessen ist sie dem Heulen nahe und macht sooo ein Gesicht. Das sieht ihr Mann und sagt: „Du liebe Zeit. Das hat mir gerade noch gefehlt. Ich bin selbst kaputt und müde. Da habe ich schon besseres gesehen!“ - haut die Türe zu und ist weg.

 

   Das ist ja auch oft der Grund, der zum Fremdgehen führt. Das Problem liegt nicht darin, dass diese zwei Menschen nicht in der Lage wären, sich gegenseitig ihre Gefühle zu kommunizie­ren, sondern es liegt darin, dass sie nicht wissen, dass sie sich dabei Signale zusenden, vor denen beide die Flucht ergreifen, ja, aus Selbstschutz die Flucht ergreifen müssen. Und wenn das erst einmal bewusst wird, dann kann man darüber sprechen, dann kann man den anderen ansprechen und kann sagen: „Du, ich glaube, Du hast jetzt eigentlich eine andere Frau erwartet, wenn Du heimkommst. Ich kann mir das gut vorstellen. Aber weißt Du, heute war ein Haufen los bei uns!“ Und der andere kann das hören und verstehen und sie können einander umar­men und trösten.

Leben als Quelle der Freude

 

   Dieses Zusammentreffen in Wut und in Hass ist nur Ausdruck eines echten Hungers und eines echten Durstes, einer echten Not. Nur wissen wir das häufig nicht - und das trennt uns.

 

   Es ist das Thema Sensualität, die sinnliche Freude, die hier hilfreich ist. Es geht darum, dass wir wieder den Mut haben dürfen, sinnlich zu sein, mit allen Sinnen diese Welt zu packen und zu erfassen, mit allen uns möglichen Qualitäten - Sinnqua­litäten - offen zu sein für das Leben, für uns selbst, für alles, was da ist.

 

Dass wir Männer zum Beispiel mit einer besonderen Freude heute den Rasierapparat geführt und dann festgestellt haben, wie schön es eigentlich ist, so eine weiche Haut, so eine glatte Haut, wenigstens im Gesicht, zu haben. Oder dass einer viel­leicht auf die Idee kam, heute ein frisches Hemd anzuziehen und mal daran zu riechen und festzustellen, wie schön es ist, wie so ein Hemd riecht, wenn es aus der Wäsche kommt. Das sind alles so banale Dinge, aber fragen wir uns doch mal: Be­merken wir das noch, können wir das? Wir müssten es ja ei­gentlich bemerken können, denn das Hemd zieht sich ja nicht von selbst an!

 

Im Grunde genommen ist das Leben so banal, so trivial, aber wir könnten es auch als eine Quelle von ständiger Lust wahr­nehmen. Sensualität heißt ja Sinnlichkeit. Im Grunde genom­men heißt das, etwas feiner übersetzt, die Fähigkeit, mit allen Sinnesqualitäten hier in dieser Welt - und zwar in jedem Mo­ment - im Hier und Jetzt zu sein - in jedem Moment. Dass also jeder Moment eine Quelle von Freude ist! Meinetwegen auch ein Resopaltisch, weil man fühlen kann, er ist abgestaubt und er ist glatt, er fühlt sich gut an, so kühl. Oder alles andere, was in der Nähe ist und das wir mit allen unseren Sinnesqualitäten packen und uns bewusst machen, begreifen, im wahrsten Sinne des Wortes be-greifen können. Dass wir zum Beispiel auch sagen, in Worte fassen, was für ein Glück es ist, wenn wir am Morgen die Tasse zum Mund führen und der Kaffee nicht zu stark ist, dass er uns also nicht gleich vom Sitz hebt. Dass man so etwas alles feststellt. Nicht dass man sagt: „Ist das wieder ein schwacher Kaffee!“ Sondern dass man sagt: „Mein Gott, so ganz langsam und behutsam werden wir jetzt in den Tag hineingeführt!“

 

   Sinnlichkeit fängt bei uns an. Das sage ich auch in Bezug auf die Kleidung und meine damit die Wahl der Kleidung, die Wahl der Farben, die Zusammenstellung der Kleidung - das geht bis hin zur Unterwäsche, ja - da mag man drüber lachen. Ich meine, dass sich jemand selbst vernachlässigt wenn er sagt, „es ist ja eigentlich egal, was ich darunter anhabe.“ Es kann mir doch nicht egal sein, was ich drunter anhabe, was andere nicht sehen. Da muss ich mich doch fragen: „Wie stehe ich eigentlich zu mir? Darf ich mich überhaupt nicht mehr erleben?“ Das geht in die Richtung „liebe Deinen Nächsten wie Dich selbst.“

Wenn ich mich reduziert erlebe, wenn ich mich in irgendeiner Art, in irgendeinem Bereich von mir abgewertet erlebe, zum Beispiel gerade auch im sexuellen Bereich, dann wird sich die­se Reduzierung, diese Begrenzung meiner Selbst immer auch im Gesamten ausdrücken. Ich werde mich in allen Bereichen ebenfalls nur begrenzt ausdrücken und mich nur begrenzt geben können, wenn ich mich insgesamt nur begrenzt erlebe. Alles hängt also auch davon ab, was ich mit meinem Haar mache, wie ich zu meinem Gesicht stehe, wie ich mich erlebe in mei­nen Bewegungen. Hier gehört auch die Frage hin, und das mag komisch klingen, gefällt es mir eigentlich, wenn ich mich mal selbst streichle? Macht das ab und zu mal einer von Euch?

 

   Dass sich jemand hinlegt, sich unter Umständen sogar, was vielleicht obszön klingt, nackt ins Bett legt und sich dann über­all einmal abstreichelt? Macht das einmal für Euch selbst. Fahrt Euch einmal durchs Gesicht oder über andere Körperteile. Er­lebt einmal dieses Gefühl, Euch selbst zu streicheln, ohne andere dazu zu bringen, es für Euch zu tun. Fahrt einmal mit der Hand an eurem Körper herunter. Wie ist denn das?

 

   Sicherlich haben einige von euch gelernt, dass es schön ist, Frühsport zu machen und die verschiedensten Übungen - 25 Kniebeugen, 36 Liegestütze, Kopfstand und was es da alles gibt. Das ist alles gut und recht. Wenn aber dahinter die Ab­sicht steht, sich dadurch fit zu halten, den Kreislauf anzuregen, das Herz zu stärken und die Muskeln voluminöser werden zu lassen so dass ich, wenn ich im Bad vor dem Spiegel stehe, diese großen Pektoralismuskeln, die ja Männlichkeit ausdrücken, spielen lassen kann - dann ist das nicht das, worauf es mir ankommt. Das ist nicht das, was wir wollen. Dabei stellt sich nicht dieses Gesamtempfinden ein. Ich mache Frühsport, weil es mir Spaß macht, weil es einfach ein anderes Lebensge­fühl gibt, weil ich dann einfach lebe. Das ist Sensualität.

 

Die Suche nach Berührung

   Und erst dann kommt der nächste Schritt. Erst durch das Be­wusstsein der Sensualität weiß ein Mensch, wenn er berührt wird, dass es sich dabei nicht um einen Griff handelt, mit dem von ihm Besitz genommen wird. Diese Gefahr besteht ja, wenn er sich selbst arm fühlt und sich noch nicht selbst in Besitz ge­nommen hat. Man erlebt sich dann wie vorhin beschrieben - reduziert - und zwar deswegen, weil man seine eigene Armut merkt, weil man sein Begrenzt-sein erlebt, weil man genau weiß, da muss doch noch mehr sein - und mit diesem Gefühl liegt man ja auch richtig, da ist man auf dem richtigen Weg, denn es fehlt ja tatsächlich etwas. Nimmt man einen anderen Menschen dazu und versucht mit ihm, das Fehlende zu ergän­zen, dann stellt man wie beim Puzzle immer wieder fest: das Stück passt ja gar nicht dazu - und dann beginnt dieses lange Suchen. Vielleicht kennt jeder von uns diese Phase. Immer greift man wieder wohin, passt es an, sagt: ah die Ecke, na ja, wenn man hier ein bisschen drückt, dann geht es schon rein. Aber das weiß man ja, auf diese Weise ergibt es niemals das richtige Bild. Beim Puzzle kann man ja auch manches forcieren, manches erzwingen. Da kann man die Ecken einfach so reindrücken. Und so kann es ja auch oft passieren in unseren Beziehungen, nicht wahr?

Dabei können wir die Erfahrung machen, dass, wenn ich meine Hand zum anderen ausstrecke, ich dann ein Teil von ihm werde, ein Teil wiederum eines großen Ganzen - und ich erlebe mich dann in der Gesamtheit, dass ich noch mehr bin und dass ich dann erst zu dem Eigentlichen komme, was ich bin. Näm­lich zu dem Erleben, ein Bestandteil - ein wichtiger Bestandteil - eines Ganzen zu sein.

Mit diesem Wissen berühre ich den anderen nicht mehr in der Absicht, ihn zu besitzen, sondern der andere erlebt sich selbst, berührt und angerührt. Unsere Sprache ist ja sehr schön, um das auszudrücken. Dasselbe hieße im Französischen touche - tou- ched im englischen, also auch dort: angerührt, berührt. Und gibt es eigentlich etwas Schöneres, als angerührt zu werden, berührt zu werden? Im Grunde genommen wünschen wir uns das doch alle. Deswegen träumen wir von Engeln, die kommen und uns küssen, wie auch die Muse - und die uns berühren, damit uns etwas aufgeht. Dass wir uns größer erleben können als unsere Beziehungen.

 

Arm an Umarmungen

 

   In diesem Zusammenhang kommen wir jetzt auf diesen be­rühmten Begriff Eifersucht zu sprechen. In unserer Begrenzt­heit, in unserer Angst, die uns ja auch Alleinsein so negativ erleben lässt, da möchten wir etwas halten, da möchten wir was besitzen und merken gar nicht: wir besitzen es dann nicht, wenn wir es halten wollen.

 

Denn da kommt die Angst herein. Eifersucht ist Ausdruck dessen, dass wir uns unserer Armut, unseres Mangels, unseres Begrenztseins bewusst werden, Ausdruck auch eines furchtba­ren Hungers und Durstes, den wir nicht zu stillen wissen. Und deswegen möchten wir uns immer eine Nahrungsquelle halten und sichern. Am liebsten würden wir eine entsprechend stete und nie versiegende Nahrungsquelle haben. Da wird von Franz von Assisi berichtet, dass seine Jünger von einem Schwein im­mer nur ein Stück abgeschnitten haben und es dann weiterleben ließen. So etwas hätten wir auch gerne - etwas, von dem wir uns immer wieder Stücke und Scheiben herunter schneiden können und es gleichzeitig weiterlebt und produziert und pro­duziert, ohne dass wir etwas tun müssen. Und womöglich sollte es auch noch nachwachsen. Und so halten wir es oft auch mit einem Partner. Den verdingen wir, den fesseln wir an uns und den verpflichten wir uns, und wissen gar nicht, wie wir und dass wir nur satt werden können in einem freien Spiel des Mit­einander und Zueinander. Wir wissen auch gar nicht mehr, was das heißt - das Berührtwerden, das Ergriffenwerden, das Ge­packtwerden. Das sind ja alles wunderbare Ausdrücke mit Doppelbedeutung im Deutschen. Ich bin ganz gepackt. Von dem Wissen, dass das Erleben von Nähe und Wärme, dass das Zutrauen zum anderen und das Vertrauen in den anderen nicht an eine Person gebunden ist.

 

Ein bisschen erleben wir das ja hier in der Klinik. Und ich möchte nicht wissen, wie viele hier, und ich kenne das von mir selbst sehr gut, kurzfristig eifersüchtig geworden sind. Da hat plötzlich jemand die Umarmung mit einem anderen Menschen gesehen und hat sich gedacht: „Also da legst Dich nieder! Wie die das machen! Also das hat bei mir noch nie einer gemacht.“ Oder: „Menschenskind, wie die sich da hinschnuckelt. Don­nerwetter! Und was die da für Töne ausstößt und vor sich hin schnurrt! Das ist ja ganz unglaublich! Wenn sie das nur mal bei mir täte!“

 

Da muss ja die Eifersucht kommen. Das ist immer genau der Moment, in dem ich meiner Verarmung, meiner Armut, meines Begrenztseins bewusst werde. Aber das Begrenztsein und die Armut und die Verarmung ist ja gar nichts Schlimmes. Es ist doch auch Hunger nichts Schlimmes. Und Durst ist auch nichts Schlimmes. Schlimm ist es nur, wenn ich noch nicht weiß, dass ich dazu berechtigt bin, Hunger und Durst auf rechte Weise zu stillen und mir dazu zu holen, was ich brauche. Und jetzt gehen wir schon in eine Richtung, in der es ganz gefährlich werden kann. Damit will ich ausdrücken: wir sind alle nicht geübt, dass wir einander zeigen können, wo eigentlich unsere wahre Not und wo unser wahrer Hunger liegt. Und deshalb leben wir an­einander vorbei. Wir haben dieses „einander zeigen können“ verlernt und nie wieder geübt, denn von einer ganz bestimmten Zeit unserer Jugend an sind Umarmungen und die Erinnerung daran, dass wir auf den Schoß genommen wurden, seltener ge­worden. Berührungen waren uns damals auf einmal unange­nehm. Wenn meine Mutter mich damals an sich heranzog und mich küsste, dann habe ich mich weggebeugt. Wer kennt das nicht? Ich habe meine Mutter damals auch gebeten, das nicht in der Öffentlichkeit zu tun, denn ich wollte männlich erscheinen. Dabei habe ich das Schönste an Erfahrung ausgeschlagen, was es gibt.

 

 

Erinnerungen an die Ursprünge sinnlicher Erfahrungen

 

   Wir haben vollkommen vergessen, dass wir einmal einen ganz ganz engen, sinnlichen Bezug hatten in unserem Leben. Dass wir in diese Sensualität eingetaucht waren - und nur Sensualität waren. Das hat Freud als die frühe Sexualität des Fötus und auch des Kleinkindes gedeutet. Es war der ganz enge Bezug, dieser sinnliche Bezug zu unserer Mutter. Wir waren ja in ih­rem Bauch drinnen. Wir haben auf der Wirbelsäule gelegen, vor der die Aorta heruntergeht, und wir haben jeden Herzschlag der Mutter mitgekriegt. Neun Monate lang haben wir diesen Rhythmus miterlebt. Wir haben alles miterlebt mit der Mutter. Wir haben ihre Freude miterlebt. Wir haben ihre Angst miter­lebt. Wir haben ihren Schmerz miterlebt. Wir haben die Wut miterlebt, die sie haben konnte, denn das wurde uns ja che­misch alles signalisiert durch das Blut, das durch die Nabel­schnur über den Mutterkuchen zu uns hereinkam. Wir haben all diese Qualitäten schon gekannt, die haben wir miterlebt und mit erfahren. Denn alle diese emotionalen Qualitäten sind ja chemi­sche Qualitäten. Und deswegen haben wir das alles schon ge­kannt. Wir haben die ganzen Bewegungen der Mutter gemerkt. Ob sie abrupt oder ob sie harmonisch waren. Und dann sind wir in diesen intimen Durchgang, nämlich durch die Vagina aus der Mutter heraus gepresst worden. Und wer Glück hatte, der hatte dann gleich nach der Geburt den intimen Hautkontakt mit der Mutter, weil ein aufgeklärter Geburtshelfer uns gleich nach der Geburt noch mit der Nabelschnur auf den blanken Leib der Mutter gelegt hat. Und wir haben uns da zunächst ausdehnen können. Wir haben lustvoll erlebt, dass plötzlich die Enge weit wird. Das ist ein ungeheuerliches Erlebnis der Sensualität. In eine neue Welt herauszukommen, wo wir plötzlich nicht mehr so ganz eng zusammengedrückt waren, sondern uns mit unse­ren Extremitäten, mit den Gliedern weit nach außen frei bewe­gen konnten - ähnlich wie das, was wir geistig im „Surrender“ nach dem Zwölf-Schritte-Programm erlebt haben, als wir unse­re Machtlosigkeit zugeben konnten gegenüber dem, was uns hinderte, uns das Leben, das uns zusteht, zu nehmen. Was im­mer das auch war, ob Alkohol, eine andere Sucht, Groll, De­pression usw. Statt Einengung war da ein weiter Raum und wir konnten nur ahnen, dass das weit hinausgeht.

 

   Doch nur zu bald wird dieser weite Raum eingeschränkt. Über­legen wir uns: Wie viele Väter nehmen später ihre Söhne und Töchter nicht mehr in den Arm und drücken sie ganz herzlich an sich? So richtig kuschelig, wie man es früher gemacht hat mit den Kleinen. Warum macht man das nicht mehr? Ja - da kommt die Wirkung der Furcht. Da kommt dieses ganze Miss­verständnis oder besser, dieses Missverhältnis zwischen Sensu­alität und Sexualität und mischt sich ein. Und es kommt natür­lich der Gedanke an Inzest auf. Das ist dieses Wort, das dafür steht, dass es möglich sein kann, dass zwischen Verwandten geschlechtliche Beziehungen stattfmden. Und es können auch die eigenartigsten Ideen und Gefühle kommen, bei denen ein Vater Angst kriegt, wenn er seine Tochter an sich drückt - und Nähe deshalb lieber vermeidet. Man könnte das jetzt noch stundenlang ausführen. Es gibt ja sehr viele Gerichtsprozesse über dieses Thema, die ganz tragisch enden.

 

 

Intim werden?

 

   Wir wachsen dann weiter auf - mit wenig oder ganz ohne Be­rührung, Nähe, echte Intimität wird immer rarer. Man wird ganz nüchtern in seinem Umgang mit der Familie und mitein­ander, sehr nüchtern. Man wird männlich. Man wird erwachsen und dann dämmert in uns jungen Menschen, Mann und Frau, Junge und Mädchen, dass es da etwas Geheimnisvolles gibt. Das ist ganz intim. Das ist ganz nah. Das ist ganz toll und dar­aufhin leben wir jetzt in den nächsten Jahren.

Früher hat man in dieser Phase eine Trennung noch stärker markiert. Da gab es Mädchenschulen und Jungenschulen. Es gab Mädchenklassen und Jungenklassen. Und man kennt ja auch das Alter, wo man dann so anfängt, wenn man ältere Ge­schwister hat und sagt: „Haha, hihi - der ist verliebt!“ Aber man ahnt, da kommt was ganz Tolles. Und dann kommen die ersten eigenen Experimente. Die laufen vorher schon. Das sind die berühmten Doktorspiele. Meist enden die Doktorspiele mit dem Entdeckt werden. Und das ist furchtbar. Und dann weiß man, man war auf dem Pfad der Sünde. Man wollte dabei aber nur entdecken, wie sehen wir Menschen eigentlich aus?

   Und eines Tages, eines Tages kommen wir vielleicht selber dazu und werden mit einem Menschen intimer. Und wie man das macht, das lernen wir, das kopieren wir, das schauen wir einfach den anderen ab, die um uns herum sind. Das wissen wir von unseren Eltern, Geschwistern oder von Freunden, mit de­nen wir zusammen kommen. Dabei gibt es einen ganz be­stimmten Kodex, ein ganz bestimmtes Gesetz, ein ganz be­stimmtes Muster, eine Abfolge. Man lernt sich kennen, man trifft sich bei irgendeiner Gelegenheit und man findet sich un­geheuer sympathisch. Man zeigt sich das, da werden viele Sig­nale ausgesandt. Das würde jetzt zu weit führen, welche große Palette es an Signalen gibt, um sich zu sagen: „Ich mag dich!“ Da gibt es erst dieses Geplänkel, man lädt sich ein, man geht ins Kino - es gibt so viele Möglichkeiten. Vielleicht sind diese Rituale in der modernen Zeit immer reduzierter geworden und man ist nüchterner geworden und geht geradewegs aufs Ziel los. Man geht ins Kino. Dort rückt man zusammen und sagt dann: „Ach, toller Film - ach - nicht?“ Und wenn man dann merkt, da wehrt sich keiner, dann darf man ja schon näher ran und dann kommt der berühmte erste Kuss. Diese keusche, zarte Berührung der Lippen. Die Lippen, die sich dann nach oben kräuseln und dann an die ersten Schleimhautgegenden kom­men. Wenn man da früher dran gedacht hätte, oh gitigitigit. Diese vielen Bazillen und Bakterien, die da drin sein können. Aber das hindert einen nicht mehr.

   Dann kommt das Erleben, das bei Frauen meist besondere Fra­gen aufwirft, die stereotyp auf der ganzen Welt auftreten: „Was denkst Du jetzt von mir?“

 

Ich muss ehrlich sagen, das ist für einen Mann schon sehr peinlich. Erstens kann er gar nicht so viel denken. Zweitens ist er froh, dass es mit dem Kuss geklappt hat. Und dann war es einmal nun geschehen und jetzt ist es eben so. Und dann fragt man sich nach einiger Zeit: „Das ist es also? Hmhm.“ Und dann sagt man sich: „Aha, das ist es. Und mehr ist da nicht bei. Das ist es also!“ Und man stellt fest, es ist eigentlich nicht das pas­siert, was man sich jahrelang ausgedacht hat. Da muss doch noch mehr kommen. Also setzt sich das Liebespiel fort. Es gibt ja einige Vorwitzige, die das üben. Dieses Üben nennt man onanieren oder masturbieren, wichsen und andere ähnliche Ausdrücke, die es dafür gibt.

 

   Die Unerfahrenen stellen sich nun vor, dass das also etwas ganz Tolles sei, ein „instant pleasure“, irgendwie wie ein Feu­erwerk, das urplötzlich losgeht und wie Raketen explodiert. Doch das passiert meist nicht. Und es kann ja eigentlich auch nicht passieren im Vergleich zu dem, was sich in uns alles an Erwartungen angehäuft hat. Wenn man sich vorstellt, wie wir lange Jahre lang daraufhin konzentriert waren, dass sich da etwas Grossartiges an Intimität, an Miteinander und Zuneigung vollzieht, das sich dann nur auf ganz wenige Quadratzentimeter von Haut und Schleimhaut beschränkt, dann wird hier unsere Armut sichtbar. Wenn wir dabei Sensualität und Sexualität nicht als Zusammengehörig erleben, begnügen wir uns für die Pflege unserer menschlichen Beziehungen, vom Hirn und sei­nen Mustern einmal abgesehen, gerade noch mit diesen paar Quadratzentimetern. Umso mehr sehnen wir uns nach intensi­ven Gefühlen, die von ihnen ausgehen, und sind deshalb dann einseitig auf sie ausgerichtet, weil unser Körper sich auf diese Beziehungsart hin fixiert und er dementsprechende, ganz be­stimmte hormonelle Muster entwickelt. Und schliesslich kön­nen wir uns unsere Beziehungen nur noch auf diese Weise, nämlich rein geschlechtlich, also sexuell vorstellen. Dafür wird der entsprechende Vorrat an Hormonen bereitgestellt. Einige Menschen können besser mit ihren Hormonen umgehen und andere können das weniger gut. Eine weitere Rolle bei dieser Hormonbereitstellung spielt jedoch auch, wie ich selbst zu meiner Geschlechtlichkeit stehe.

 

Vielleicht ist da ein kleiner Seitenblick hilfreich. Das ist wie beim Alkoholiker. Da stellt sich der Körper auch darauf ein, ein Überangebot an Alkohol abzubauen. Und dies passiert deswe­gen in immer gesteigertem Maß, weil man mit seiner Unfähig­keit, es mit dem Leben aufzunehmen, nicht fertig wird und es an Erfahrung mangelt, wie man Befriedigung findet, und des­halb diesen Zustand der Unruhe und der Leere dämpfen muss.

Trennende Missverständnisse

 

   Man muss hier einfach immer wieder zurückblenden und sich fragen: woher kommt das? Wir haben nämlich nicht gelernt, das fortzusetzen, was wir alle schon gehabt haben, nämlich den intimen Bezug zum ganzen Menschen. Und ich möchte es noch einmal betonen: ohne die fatale Geschlechterrolle. Diese Aus­prägung der Geschlechterrolle und die Überbetonung des Ge­schlechts und der geschlechtlichen Beziehungen ist durch uns entstanden, weil wir einfach nicht wissen, was Sensualität ist.

 

Vielleicht ist diese Wahrheit bitter, aber wir haben uns selbst aus dem Paradies verstossen!

Ich möchte behaupten, dass es im Grunde genommen das, was wir heute Sexualität nennen, überhaupt nicht gibt, und da kann ich mir jetzt mit meiner Meinung viel Schlimmes antun, vor allem im Kreise meiner Kollegen. Das, was heute in vielen Fällen unter Sexualität abläuft, ist meist einfach diese falsch buchstabierte-, und nur noch diesen paar Quadratzentimetern vorbehaltene, reduzierte und dadurch verkorkst gewordene Sensualität.

 

Es gibt auf diesem Gebiet eine unheimliche Not - vergleich­bar der Not, von der Alkoholiker erzählen. Aber kennt nicht jeder Mensch diese Not? Denn das Grauenhafte ist ja, dass wir alle auf diese einseitige, primitive, sehr begrenzte Art der Be­ziehung ausgerichtet sind. Das möchte ich immer wieder her­aussteilen. Denn wir wissen gar nicht, dass uns eine Fülle von Möglichkeiten zusteht, um Beziehungen auszudrücken. Wenn wir die mal ausschöpfen könnten! Wenn wir doch nur den Mut dazu wieder bekämen und feststellten, dass dabei überhaupt keine Gefahr besteht. Es besteht wirklich keinerlei Gefahr, wenn wir wieder neu anfangen und uns einüben im Erleben von Nähe.

Ich weiß das, seit ich 1972 zur Ausbildung nach New York zu meinem Freund Dan Casriel kam, wo in Fällen von seeli­scher Krankheit und Störung genau das wiederum ganz einfach geübt wurde - Nähe.

Da kam ein Mann auf mich zu, der sich im Workshop emoti­onal gelöst hatte, der mit einem Schrei seinen ganzen Schmerz herausgelassen hatte, seine ganze Wut und seine ganze Angst, seine ganze Zerrissenheit. Und wie er dann an diesen Punkt kam, wo er frei war von Schmerz, den er als Gefahr erlebt hat, und frei von Angst und Wut, und plötzlich mit einem ganz an­deren Gesicht in der Gruppe herumschaute und sagte: „Ach ihr könnt euch gar nicht vorstellen, wie mir das gut tut. Und dass ihr mir das alles gestattetet, dass ich diesen ganzen Scheiß herauslassen durfte bei euch, dass ihr nicht davongelaufen seid, wie so viele Menschen in den vorhergehenden Jahren immer davon gelaufen sind, wenn ich meine ganze Not zum Ausdruck brachte. Dass ihr dageblieben seid. Ach - ist das herrlich!“

 

Und dann hat Dan Casriel zu ihm gesagt: „Mensch, tu dir was Gutes. Geh einfach auf andere zu. Such' Dir mal jemanden und umarme ihn!“ Und das Schlimmste geschah, was passieren konnte: der ist auf mich zugegangen. Ich habe eine solche Angst gekriegt, dass ein Mann mich in der Weise, wie es in den Gruppen getan wird, umarmt. Zunächst stand ich so da wie ein Eiffelturm, mit dem Hintern so herausgestreckt. Denn da glaub­te ich, sei die größte Gefahrenzone. Ich habe gedacht, ich weiß ja nicht, was sich bei ihm vielleicht regt und was sich bei mir regt. Ich hatte das ja noch nie vorher probiert. Es passierte gar nichts, sondern ich merkte nur die große Freude und die große Befreiung dieses Menschen. Ich selbst habe erst lernen müssen: es kommt kein Mann auf mich zu, sondern es kommt ein Mensch auf mich zu. Ich habe die Trennung aufgebaut. Ich habe eine Gefahr für mich in diesem Mann gesehen. Von der Nähe zu einer Frau wollen wir ja gar nicht erst sprechen. Denn da habe ich genau dieselbe Gefahr gesehen. Es entstehen - und ich glaube, mancher kann sich damit identifizieren - es entste­hen dadurch furchtbare Missverständnisse in der Beziehung der Geschlechter untereinander.

 

Stellen wir uns vor: Ich treffe jemanden. Wir sind uns sympa­thisch. Es gelingt uns vielleicht, auch über unsere Hemmungen hinweg, uns das zu sagen und auszudrücken. Wir finden, dass Umarmen schön ist. Wir streicheln uns dabei. Wir kommen wie von ungefähr auch in Gegenden, wo man sonst nicht hin­kommt, weil es einfach gesellschaftlich nicht zulässig ist.

   Also man kommt in Gegenden, wo die Berührung als ange­nehm empfunden wird und die Signale, die einem gegeben werden, sind positiv und man wagt mehr - und nun kommt es dazu, dass die weibliche Person entdeckt: „Na der geht ja ganz schön forsch vor.“


Und sie sagt sich: „Also, alles was recht ist, aber wenn ich jetzt da abwehre, ich mag ihn ja, wenn ich jetzt abwehre, dann kann er mir vielleicht böse sein. Das will ich ja nicht. Also werden wir das mal bis zu einer gewissen Grenze zulassen.“ Das Spiel geht dann so weiter. Aber nun denkt der junge Mann: „Na ja, die lässt ja allerhand zu und gibt auch Zeichen, sagen wir mal, des Wohlbefindens von sich“, und es beginnt ein ge­wisses Gurren und Schnurren. Und er sagt sich: „Die erwartet ja einiges von mir.“ Und so gibt eines das andere.

Bezahle nicht mit Sex für Nähe

 

   Aber häufig beruht alles, was dann kommt, auf Missverständ­nissen. Denn im Grunde genommen kann sich der jeweilige Partner diese Art der Intimität noch gar nicht leisten - und will es auch noch nicht. Aber er will nicht in irgendeiner Weise als prüde angesehen werden und gibt nach. Diese Signale deutet der Andere nun wiederum, dass er etwas leisten muss. „Jetzt wird von mir etwas erwartet.“ Und so eskaliert das Ganze und endet zum Schluss in einer Situation, die beide eigentlich gar nicht wollen. Und dann kommt hinterher - und gerade deswe­gen - die Enttäuschung. Beide wollten nämlich eigentlich etwas anderes. Beide sehnten sich seit ihrer Geburt oder womöglich seit der Zeugung nach nichts anderem als nach dem verlorenen Paradies, was man mit der Mutter und mit dem Vater, wenn man Glück hatte, und mit den Geschwistern schon streckenwei­se hatte. Wir sehnen uns einfach nach gefahrloser, vertrauens­voller Nähe und Geborgenheit. Und das wollen und sollen wir uns eigentlich geben.

 

Dieses Sehnen läuft jedoch Gefahr, in Sexualität abzugleiten, das heißt in eben diese falsch verstandene, eingeschränkte Sensualität.

 

Mit dem eben Beschriebenen wollte ich vor allem auch auf­zeigen, dass wir in dem Moment, in dem wir wirklich drauf kommen, was wir eigentlich in diesem Leben wollen, auch ent­decken, was Sensualität ist.

 

Wenn uns das nicht gelingt, dies ganz klar für uns herauszu­arbeiten, dann endet manche Begegnung und manche Bezie­hung bei den paar Quadratzentimetem Haut und Schleimhaut und damit in einer sexuellen Situation, die wir im Grunde ge­nommen zunächst gar nicht wollten.

 

Um noch etwas deutlicher zu machen, worum es hier geht, möchte ich an dieser Stelle und in diesem Zusammenhang ein­mal nicht das Wort Sexualität gebrauchen, sondern diesen inti­men Kontakt prokreative Begegnung nennen, denn der dient zuinnerst und zutiefst der Zeugung, ist also auch eine Zeu­gungsbegegnung. Aber bitte - ich möchte hier nicht missver­standen werden. Das ist etwas so Großartiges, das man deshalb letzten Endes gar nicht beschreiben kann. Aber - allein gesehen - ist auch diese prokreative Begegnung noch nicht das, wonach wir uns sehnen.

 

Sehnen tun wir uns nach der Ganzheit, nach dem ganzheitli­chen Erleben, und zwar von Kopf bis Fuss, von der Haarspitze bis zu den Zehenspitzen. Wir sehnen uns danach, dass wir uns als ganzer Mensch erleben können. Und das haben wir schon einmal in anderer Form erlebt, nämlich als wir unsere Mutter so richtig umschlungen haben und uns so richtig in sie hereingekuschelt haben, ohne zu wissen, was zum Beispiel die Brüste später in unserer Welt bedeuten, dass das plötzlich in erster Linie Geschlechtsmerkmale und Sexorgane sind und ihren Cha­rakter als schöne, feine und sensible Kontaktorgane verlieren. Und das wiederum ist in jeder Kultur verschieden.

 

So war zum Beispiel Dan Casriel als Psychiater auch auf der Pazifikinsel Okinawa, die das amerikanische Militär als Besat­zungsmacht besetzt hatte. Dort war es üblich, dass die Frauen ohne Oberteile herumlaufen. Die Amerikaner sind ja alle wie verrückt geworden und haben sich dann nur noch mit Stielau­gen alle diese Brüste angesehen. Und darüber haben sich die Okinawianerinnen lustig gemacht und haben die Amerikaner „Baby-sons“ genannt, „Babysöhne“, die alle noch an die Brust wollen. Die lachten sich halbtot. Und so ist es völlig verschie­den, was in anderen Kulturen zu sogenannten Geschlechtsmerkmalen wird. Das ist bei uns alles überstilisiert. Das ist alles übersteigert. Das ist überbesetzt, überreizt.

 

Und auch wir wissen nur zu gut, wozu die weibliche Brust in unserer Kultur genommen wird, denken wir nur mal an die Werbung. Oder überhaupt der nackte weibliche Körper. Viel zu wenig der schöne männliche Körper. Ich finde, die Frauen kommen da alle zu kurz.

   Und auch wir sind, was unseren Körper anbelangt, noch Klein­kinder. Aber Kleinkinder in dem Sinne, dass wir uns noch nicht ganz erleben, dass wir noch nicht ganz ja zu unserem Körper sagen.

 

Nehmen wir das Beispiel, das ich vorhin erwähnte. Dass man sich selbst einmal streichelt. Wer käme einfach so, von sich aus, auf diesen Gedanken? Wer kommt sich dabei nicht dumm vor? Und weil wir das nicht mehr können, können wir auch das andere nicht mehr: Sensualität zwischen uns aufzubauen und in seiner ganzen Fülle und Intensität und Stärke erleben.

 

Es fehlt uns an dieser Art Sinnlichkeit miteinander, bei der wir nicht diesem Missverständnis unterworfen sind und vor­schnell abgleiten in diese missverstandene Sinnlichkeit und Sensualität, nämlich in bloße Sexualität.

Intimität - ein grosses I!

 

   Heute verstehe ich auch die katholische Kirche besser. Ich habe lang gebraucht zu verstehen, warum der Papst immer wieder betont - und da wird auch er so sehr missverstanden - dass die sexuelle Beziehung - und das bitte ich Euch jetzt, in diesem Kontext zu sehen und richtig zu verstehen - immer die Mög­lichkeit birgt, neues Leben zu zeugen - und dass wir nicht ver­gessen, dass sie auch dafür da ist. Ich verstehe das heute, denn wer ein bisschen von dem geschmeckt hat, was uns echte Sen­sualität, ohne das Missverständnis mit der Sexualität, alles bringt an Erleben, an Erfüllung, an neuer Erfahrung, an Ganzheit, an Kraft auch, der weiß auch, wie gering der Anteil dessen ist, was wir sexuell nennen.

 

Denn das, was wir eigentlich wollen, diese strotzende Fülle mit ihrer tiefen Freude und Befriedigung, kommt häufig nicht. Das kriegen wir nicht. Wir sind immer unbefriedigt und deswe­gen, wenigstens war es bei mir so, bin ich von Partnerin zu Partnerin gesprungen und habe gemeint, irgendwann muss doch das passieren, was ich mir wünsche, das, nach dem ich mich sehne, das müsste doch jetzt kommen. Ich habe so oft die Part­nerinnen gewechselt, weil es immer viel leichter war, sexuelle Beziehungen herzustellen. Es hat viel weniger Verantwortung verlangt, als Sensualität aufzubauen. Und vor der echten Intimi­tät, vor der echten Nähe habe ich eine furchtbare Angst gehabt, denn die beinhaltet alles, unser ganzes Menschsein, aber auch wirklich das Ganze, mit allem, was wir an und in uns haben, ohne Aussparungen. Und davor darf man irgendwann nicht mehr wegrennen, sondern dann muss man stehen bleiben und standhalten und dazu stehen - und dann entwickelt sich auch die Sensualität.

   Ich habe dieses Verhältnis von Sensualität versus Sexualität immer gerne mit einem Bild gekennzeichnet. Die Sensualität sollten wir uns dabei vorstellen wie den groß geschriebenen römischen Buchstaben „I“. Ein „I“, das langsam aufgebaut wird, Schritt für Schritt. Das müssen wir wieder lernen, damit wir uns ohne Angst nahe sein können. Damit nicht einer viel­leicht denkt oder auch gleich offen sagt, wenn sich zwei bei der Hand nehmen: „So, na jetzt hat's den Peter gepackt. Hoffent­lich geht das noch gut aus!“ Dabei nehmen wir uns mit dieser Geste ja nur, was wir in diesem Moment brauchen. Denn es ist schön, so eine Hand zu halten, das ist etwas Wunderbares. Wenn wir die Ruhe dazu haben, uns die Zeit nehmen und nicht nur so rasch mal eine Hand nehmen wie beim Begrüssungs-Händeschütteln. Wie viele können es gar nicht mehr so lange mit der Hand eines anderen aushalten? Das geht bei vielen gar nicht mehr. Da kommt viel Störendes dazwischen. Aber genau das heißt Aufbauen von Sensualität, von Vertrauen, von echter Nähe, von Intimität.

 

Sexualität ist dann im Vergleich zu dieser geduldig, wach und sensibel aufgebauten Intimität, diesem grossen I, wie das kleine „i“ mit seinem Punkt drauf als Verzierung. Das kleine „i“ braucht diesen Punkt, sonst ist es ja nicht erkennbar. Wir mei­nen ja oft, viel zu oft, dass wir auch diese sexuellen Kontakte brauchen, wo immer es eine Gelegenheit dazu gibt. Und dann setzen wir unsere Punkte, kreieren wir unsere kleinen „i“. Aus Angst, dass es uns sonst nicht gäbe. Wir meinen, den Weg zu befriedigenden Begegnungen durch „instant pleasure“ abkürzen zu können. Wir wollen einfach nicht solange damit warten, bis wir selbst und miteinander soweit sind, dass wir in der Fülle unseres Erlebens entscheiden und sagen können: gut - jetzt ge­hen wir an diesen letzten Schritt heran, - und nicht, um überall und unübersehbar unsere Punkte zu verstreuen, sondern um bewusst und erwachsen jetzt und hier diesen einen Punkt zu setzen.

 

Wie es auch in der Umgangssprache heisst: „Jetzt mach mal einen Punkt!“ Jetzt weiss ich auch, was dieser Ausspruch be­deutet! Dieser Punkt kann ja aus Freude und Spass wieder und immer wieder gesetzt werden! Unsere sexuelle Begegnung ist letzten Endes immer, um den Ausdruck nochmals aufzuneh­men, prokreativ. Zu diesem Tun gehört es, dass es ja unter an­derem zur Zeugung eines neuen Lebens führen könnte. Und so, wie wir unsere sexuelle Begegnung vor diesem Hintergrund erleben, als dieser wunderschöne und intime Ausdruck unserer Sensualität, können wir für das, was immer daraus wird und was da kommen könnte, dann hoffentlich auch die Antwort übernehmen, die Ver-Antwort-ung.

 

 

Literatur
Casriel, D.“New Identity Prozeß”, D, in: Handbuch der Psychotherapie, Hrsg. Raymond v. Corsini, Psychologie-Verlagsunion, München
Grossmann, Klaus E; Grossmann, Karin (2003). Bindung und menschliche Entwicklung.
Klett-Cotta.
Lechler, W (2005). Von mir aus nennt es Wahnsinn: Protokoll einer Heilung. Kreuz.

Lechler, W (2007). Das Bad Herrenalbber Modell Die Lehr-Lern-Gemeinschaft (Teaching-Learning-Community) als psychosomatisches Klinik-Konzept. Sensualität versus Sexualität.
Grawe, K. (2004) Neuropsychotherapie . Hogrefe-Verlag.
Stauss,K.(2006). Bonding Psychotherapie – Grundlagen und
Methoden. Kösel-Verlag,
Greenberg, L.S.; Rice, L.N.; Elliot, R. (2003). Emotionale Veränderung fördern: Grundlagen einer prozeß- und elebnisorientierten Therapie. Paderborn: Junfermann.